60 Stunden später. Immer noch verläuft die Mission problemlos. Nun beginnt man, sich auf einen der kritischsten Teile derer vorzubereiten: Das Andocken am Weltraumlift. Dazu müssen Landungsmodul und Steuerungseinheit in die Umlaufbahn Orbitalstation des Weltraumlifts gebracht werden. Einmal auf Kurs, nähert sich das Landungsmodul mit Antriebseinheit der Orbitalstation, um an ihr anzudocken. Als besondere Herausforderung würde sich aber erweisen, dass die Orbitalstation schon mit dem Ausrüstungsmodul Mars und dessen Trägerrakete besetzt ist. Das Landungsmodul, entsandt vom Planeten Erde, muss also am Ausrüstungsmodul Mars andocken, ohne es zu beschädigen. Denn es wird auch als Cockpit für den Weiterflug herhalten müssen. Ein überaus heikles Manöver.
Noch zwei Stunden bis zum Kopplungsmanöver. Die Orbitalstation befindet sich im Lagrange-Punkt zwischen Erde und Mond, dort wo sich die Anziehungskräfte beider Himmelskörper kompensieren.
Hier hatten die Raumfahrtorganisationen der USA, Russlands und Chinas eine riesige Raumstation aufgebaut, die alles vorhergegangene in den Schatten stellte. Neben der bemannten Marsmission war das Ziel, Rohstoffe wie u.a. Deuterium auf dem Mond abzubauen und sie dann kostengünstig zur Erde transportieren zu können. Auch sollten von hier Missionen zu Asteroiden gestartet werden, wo man seltene und wertvolle Rohstoffe wie Gold, Platin und Palladium abzubauen hoffte. Ein wahrhaft visionäres Projekt. Die technischen Anforderungen immens.
Die Orbitalstation schwebt mit 24 Kilometern pro Sekunde dahin. Das Landungsmodul muss auf dieselbe Geschwindigkeit beschleunigt werden, um an ihr andocken zu können. Ist es zu langsam, erreicht es sie nicht, ist es zu schnell, kommt es zur Katastrophe. Im Modul sind die Kommandantin Rewina und Kollege Sobatschkin damit beschäftigt, das Andockmanöver in die Wege zu leiten. Noch 22 Kilometer bis zur Station.
Nachdem Stufe eins und die Booster abgebrannt sind, ist nicht mehr viel Raketentreibstoff übrig. Die beiden müssen also sklavisch darauf achten, die Geschwindigkeit genauestens zu dosieren. Täten sie das nicht, dann droht im schlimmsten Fall ein fataler Aufprall, weil nicht mehr genug Sprit zum Abbremsen vorhanden ist.
Beide Piloten arbeiten höchst konzentriert. Nicht, dass sie etwa Schubregler bedienen. Nein, ihre Aufgabe ist nur, einzugreifen, wenn die Automatik versagt. Eine durchaus nervenaufreibende, denn man trägt höchste Verantwortung, hat aber nichts zu tun. Solange nichts schief geht. Wenn ein Notfall aber eintritt, dann muss man den Metabolismus sekundenschnell von Null auf 100 hochfahren, um die drohende Katastrophe zu verhindern.
Immer wieder gehen die beiden Checklisten durch. Aber nur um festzustellen, dass sie auf dem richtigen Kurs durch Raum und Zeit fliegen. Dann wieder gespannte Muße. Der Ausblick durch die Bullaugen grandios. Rechts neben ihnen die blau-weiße Erdscheibe. Links der graue Mond. Vor ihnen, immer noch in einiger Entfernung, aber doch näher kommend, die Orbitalstation mit Weltraumlift und Marsrakete.
Die Schwierigkeiten beginnen im Abstand von etwa zwei Kilometern von der Orbitalstation. Die beiden russischen Piloten beschäftigen sich gerade wieder damit, eine der Checklisten durchzugehen. Dann geht der Flugrechner unvermittelt in die Knie. Der Bildschirm, auf dem die für das Andockmanöver relevanten Daten angezeigt werden, ist mit einem Schlag schwarz. Ein durchdringender Alarmton meldet den Ausfall. Was eben noch öde Routine war, wächst sich abrupt zum Notfall aus.
Der Backup-Rechner übernimmt, so wie es das Notfallprotokoll vorsieht. An sich besteht kein Anlass zur Besorgnis. Doch der Rechner errechnet, im Gegensatz zu seinem Pendant, dass das Landungsmodul sich auf direktem Kollisionskurs mit der Orbitalstation befindet. Die Geschwindigkeitsdifferenz betrage mehr als 20 Kilometer pro Stunde. Ein weiterer Alarm ertönt. Doch ein automatisches Bremsmanöver wird nicht eingeleitet. Dafür wartet der Backup-Computer auf Rückmeldung. Nur von wo?
»Ich verstehe das nicht, das kann doch einfach nicht sein!«, stöhnt Sobatschkin. »Sollen wir auf manuelle Steuerung umstellen?«
»Warten Sie noch, wie schnell sind wir?« gibt seine Kollegin knapp zurück.
Der Hauptrechner fährt derweil weiter hoch. Allerdings nicht in dem Tempo, in dem es sich die beiden Piloten gewünscht hätten. Immer noch erscheinen kryptische Befehlszeilen in Schwarzweiß auf dem Schirm.
Die Orbitalstation ist jetzt etwa noch 500 Meter entfernt. Sie nähert sich unaufhaltsam. Zumindest gefühlt. Endlich zweifelt auch Kommandantin Rewina nicht mehr daran, dass sie zu schnell sind. Eine Stimme meldet noch 180 Sekunden bis zur Kollision.
»Schalten Sie auf manuelle Steuerung um. Wir müssen Geschwindigkeit verlieren! Sofort!«
»Hier spricht die Orbitalstation Mond. Landungsmodul, wie ist ihr Status?«, fragt der deutsche Astronaut Hesch routinemäßig an. Auch er sieht die Raumfähre auf sich zukommen.
»Orbitalstation Mond, wir haben ein Problem. Wir sind zu schnell!«, informiert ihn Rewina. »Leiten Bremsmanöver ein.«
»Copy that!«
Der Rest der Crew im Landungsmodul verfolgt die Konversation gespannt. Co-Pilot Oleg Andrejewitsch dreht die Steuerdüsen per Handsteuerung auf Gegenschub und zieht den Regler nach hinten. Nichts passiert.
In solchen Momenten zahlt sich das jahrelange Training der Kosmonauten eindeutig aus. Von der drohenden Kollision scheinbar völlig unbeeindruckt, spulen die beiden Piloten die Routine für den Einsatz der manuellen Steuerung ab. Doch alle Punkte seiner Chefin muss Sobatschkin positiv bestätigen. Was aber nicht bedeutet, dass er Gegenschub geben kann. Die Stimme meldet noch 90 Sekunden bis zur Kollision. Empfiehlt ein sofortiges Bremsmanöver einzuleiten.
»Orbitalstation Mond. Alarmstufe Rot. Alle Triebwerke ausgefallen! Befinden uns auf Kollisionskurs. Sofort Ausweichmanöver einleiten!«
Zwei endlose Sekunden Stille.
»Landungsmodul, bitte bestätigen Sie Triebwerksausfall!«
»Orbitalstation. Totaler Ausfall aller Triebwerke!«
Auch der Japaner Koichi Watanabe, der zweite Mann Besatzung auf der Orbitalstation, hatte den Hilferuf des Raumschiffs mitverfolgt. Während er die Zündung betätigt und den Schubregler nach vorne schiebt, gibt er Rückmeldung: »Triebwerke Orbiter gezündet, Ausweichmanöver eingeleitet!«
»Noch 60 Sekunden bis zur Kollision«, meldet die Stimme emotionslos. Das Raumschiff gleitet weiter ungebremst auf die Raumstation zu. Ein 750-Tonnen-Kolos samt Marsrakete lässt sich nicht so einfach zur Seite schieben.
»Das wird verdammt eng!«, flucht Sobatschkin.
Die Distanz beträgt jetzt nur noch etwa 200 Meter. Nur langsam lässt sich ausmachen, dass die Orbitalstation in Bewegung kommt.
Rewina und ihr Co-Pilot gehen nochmals die Checkliste der manuellen Triebwerkssteuerung durch. Bewundernswert sachlich haken sie jeden Punkt der Checkliste ein weiteres mal ab. Erneut aktiviert Oleg Andrejewitsch die manuelle Steuerung. Diesmal springt sie an. Er schiebt den Schubregler Maximum.
Nur noch 15 Meter trennen Raumstation und Flugkörper.
»Für Aufschlag bereit machen«, vermeldet die Kommandantin ungerührt.
Dann kracht es. Das gesamte Landungsmodul erzittert. Prallt von dem Kopplungssystem der Orbiters ab. Doch das Brems- und Ausweichmanöver war nicht erfolglos. Ein direkter Aufschlag kann vermieden werden. Es ist mehr ein Streifen. Trotzdem furchteinflößend. Und das fern ab von jeder Möglichkeit, größere Schäden einfach zu beheben.
»Landungsmodul, bitte Schadensbericht!«
»Keine Hinweise auf Leckagen. Crew Ok! Manuelle Steuerung wieder verfügbar.«
»Ausgezeichnet! Haben Sichtkontakt zum Kopplungssystem. Es schaut danach aus, als hätte es die Kollision unbeschadet überstanden.«
Bis die Crew jedoch in die Orbitalstation wechseln konnte, sollten noch Stunden vergehen. Die erneute treibstoffschonende Ausrichtung von Station und Raumschiff stellte sich als überaus schwierig heraus. Auch die Kontrollstation in Oberpfaffenhofen musste mittels Laser- und Radarmessungen Orientierungshilfe geben. Nach der Kollision hatte sich das Landungsmodul über einen Kilometer vom Weltraumaufzug entfernt. Um Brennstoff zu sparen, ließ man die Annäherung recht langsam angehen.
Als die Meldung »Kopplungsmanöver erfolgreich!« über den Äther ging, war die Erleichterung grenzenlos. Nicht nur in Oberpfaffenhofen, wieder Szenen der Verbrüderung samt inniger Umarmung. Nachdem sich die Schleusen auf beiden Seiten dann noch problemlos öffneten, waren Raumfahrtbegeisterte auf der ganzen Welt euphorisch.
Während sich die anderen Crewmitglieder schon durch die Kopplungsöffnung zwängten, hatte Rewina die Zeit, sich mit Sobatschkin auszutauschen.
»Haben Sie irgendeine Idee, warum die manuelle Steuerung nicht aktivierbar war?«
Die beiden warfen sich fragende Blicke zu.
»Ich fürchte, der Reset des Hauptcomputers hat zum einen zu lange gedauert und zum andern das Umschalten verhindert.«
»Das kann nicht sein! Das müssen wir mit dem Kontrollzentrum abchecken! Hoffentlich ist es mit einem Patch getan!«
Der Co-Pilot nickte und schob sich in die Orbitalstation.