02.08.2048
Werner Laube war am Ende. Komplett am Ende. Das, was ihm die letzten Jahre schwante, war eingetreten. Und obwohl es ihm klar gewesen war, dass der Tag kommen musste, unweigerlich kommen musste, traf es ihn doch viel schlimmer, als er je zu befürchten gewagt hatte.
Peng hatte es ihm beim Frühstück eröffnet. In zwei Wochen würde sie ihn verlassen. Und das für immer. Die Partei hatte ihr zu ihrer erfolgreichen Arbeit in Deutschland gratuliert. Sie habe durch ihre außerordentlichen Verdienste das Projekt Marsmission in unvergleichlicher Weise befördert. Dafür würde sie mit einem Posten als Abteilungsleiterin im Ministerium für Industrie und Informationstechnik, dem das chinesische Raumfahrprogramm untersteht, belohnt.
Sofort brach Werner in Tränen aus. Wobei das die Agonie völlig unzureichend beschreibt, die den Raketeningenieur überfiel. Im ersten Moment hatte sein sonst so kühl analysierender Verstand noch nach einer Lösung gesucht. Doch dann war die Ausweglosigkeit der Situation in all ihrer Unabwendbarkeit über ihn hereingebrochen. Wenn Peng ihn nicht für immer aufgab, würde das das Ende ihrer Karriere bedeuten. Außerdem massive Repressionen für ihre Familie und alle in ihrem Umkreis, die sie wertschätzte.
Es gab immer ein Ersatztriebwerk, einen technischen Kniff, eine Lösung out of the box, mit der man jedweder Schwierigkeit begegnen konnte, die bei der Umsetzung komplexester Missionen auftreten. Das war sein Metier, seine unzweifelhafte Stärke.
Doch diesmal war das für ihn Unfassbare so unabwendbar wie der Tod. Und er so allein damit, wie es jeder Mensch mit seinem unweigerlichen Ende nun mal ist. Mit dieser Erkenntnis konfrontiert, heulte der Mann Anfang 40 ohne jede Hemmung los. Dämme brachen. Werner erlitt einen totalen Nervenzusammenbruch. Am Frühstückstisch.
Sein Leben würde wieder so einsam und öde sein, wie es gewesen war, bevor diese Frau in sein Leben getreten war. Diese Frau, eigentlich eher eine graue Maus, so wie er eben. Aber das, genau das, was sie so begehrenswert machte. Und eben nur für ihn. Nie wieder würde er einen Menschen finden, mit dem ihn seine Fähigkeiten und Qualitäten so verbanden. Noch viel wichtiger aber war die Tatsache, dass er nie wieder seine eigene Farblosigkeit in so vielen Bereichen des menschlichen Daseins so bedingungslos mit einer Frau würde teilen können. Einer Frau, der dieser Firlefanz, wie er es nannte, in keinster Weise abging. Die ihn so gewähren ließ, wie er war. Nie auch nur den leisesten Versuch unternommen hatte, ihn zu ändern. Die sein Wesen, das eines freundlichen Schrats, nie, kein einziges Mal, infrage gestellt hatte.
Jetzt lag er am Boden, halb unter dem Tisch, umkrallte ihren Fuß in den bunten Ringelsocken und den pinken Plastikclogs vom Discounter. Schluchzte hemmungslos, sein schwammiger Körper von unregelmäßigen Spasmen durchzogen. Wiederholte immer wieder unkontrolliert: »Bitte, bitte, verlass mich nicht!«
Auch Peng von der Situation völlig erschlagen. Ihr war bewusst gewesen, dass Werner ihre Rückkehr nach China schwer treffen würde. Sie hatte sich vor dem Moment schon seit Monaten gefürchtet. Aber dass es ihn komplett umwerfen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Mit der Hand strich sie ihm besänftigend, wenn er es auch in seiner Agonie überhaupt nicht wahrnahm, durch das schüttere Haar. Doch von unterm Tisch kam nur das erbärmliche Winseln und das Ziehen an ihrem linken Fuß.
»Werner, bitte, du kannst mich doch jederzeit besuchen kommen! Ich bin doch nicht aus der Welt!«
Doch Werner war nicht ansprechbar. Und Peng ratlos. Was sollte sie mit diesem Menschen machen, der hier vor ihren Augen am Frühstückstisch umgekippt war? Sie wusste sich keinen Rat, wie sie ihn wieder auch nur ansatzweise stabilisieren konnte.
Das ging mindestens eine halbe Stunde so. Werner lag weiter von unkontrollierten Spasmen durchzogen unter dem Tisch.
»Werner, soll ich einen Arzt rufen?«
Erst mal wieder nichts. Dann nach ein paar Minuten:
»Die Tabletten, im Bad. Ich brauch' zwei.«
Die Umklammerung an ihrem linken Fuß lockerte sich etwas. Trotzdem musste sie sich energisch losreißen. Eilte ins Bad zum Arzneischränkchen und begann zu suchen. Fand endlich das Döschen mit dem Tranquilizer. Schüttelte sich zwei Tabletten auf die Hand, rannte wieder in die Küche und füllte die nächstbeste Tasse mit Wasser.
Zurück am Frühstückstisch fiel sie auf die Knie, zog ihren Lebensabschnittsgefährten zu sich hoch, schob ihm die Tabletten in den Mund und spülte sie mit dem Wasser herunter. Sobald sie ihn losließ, sank Werner wieder zu Boden.
Irgendwann wirkten die Sedativa. Mit Pengs Hilfe konnte der Verzweifelte sich auf einen Stuhl ziehen.
~
Im Jahre 1867 hatten die Vereinigten Staaten Alaska für 7,2 Millionen Dollar vom damaligen russischen Herrscher Zar Alexander erworben. Eigentlich ein Schnäppchen, denn es war mit nur 4,74 Dollar pro Quadratkilometer einer der billigsten Landkäufe der Geschichte. Der Unterhalt der einzigen und schwer erreichbaren Überseekolonie war den Russen schlicht zu aufwendig und zu teuer geworden. Aus heutiger Sicht ein wahrlich miserables Geschäft. Wäre das eisige Stückchen Land heute zu verkaufen, würden wir wahrscheinlich über Billionen reden.
So aggressiv, weltfremd und risikovergessen wie Wladimir Putin war der amtierende russische Präsident Fjodorow nicht, dass er mit dem Gedanken gespielt hätte, in einem Blitzkrieg zu versuchen, das verlorene Terrain zurückzuerobern. Selbst wenn ihm die größten Defizite der russischen Armee nicht zugetragen wurden, hegte er keine Zweifel daran, dass die größte und teuerste Armee der Welt dem Versuch ein schlagartiges und aus russischer Sicht fatales Ende bereiten würde. Trotzdem verlangte er von der gleichgeschalteten Presse des Landes immer wieder, den historischen Anspruch Russlands auf das Gebiet zu erneuern. Das Kernargument war, dass es sich um eine unzulässige Schenkung durch einen korrupten Aristokraten handelte, da der Kaufpreis so weit unter dem wirklichen Wert gelegen habe und das Geld beim einfachen russischen Volk nie angekommen sei. Offiziell hatte sich Präsident Fjodorow immer von allen derartigen Forderungen distanziert. Ihm genügte, dass sie einfach mal so im Raum standen und jederzeit von ihm aufgegriffen werden konnten.
Nach dem Debakel in der Ukraine war auch Putin wieder dazu übergegangen, seine Machtansprüche scheibchenweise durch entweder massive Luftschläge oder nagende Destabilisierung und lokale Milizen und Söldner zu verfolgen. Besonders die Söldner hatten den Vorteil, dass niemand Mütterchen Russland für deren Aktionen und unbeschreibliche Grausamkeit verantwortlich machen konnte.
Die Insel St. Lawrence ist der östlichste Außenposten der Vereinigten Staaten im Beringmeer. Hier sind die USA und Russland nur 58 Kilometer voneinander entfernt. In den reichen Fischgründen vor der Insel waren seit Jahren US-amerikanische und russische Fischer etliche Male aneinandergeraten. Jeder hatte versucht, den Konkurrenten in den internationalen Gewässern die ertragreichsten Fischschwärme vor der Nase wegzufischen. Einmal hatte sogar ein US-Trawler ein russisches Fischerboot so gerammt, dass dieses sank. Was zu einer erheblichen Verstimmung zwischen den beiden Nationen geführt hatte.
Die Situation kumulierte, als vier russische Trawler handstreichmäßig in Gambell auf St. Lawrence anlandeten. Auch sie waren zum Fischen gekommen. Allerdings nicht in den trüben Hafengewässern des Dorfes. Die Mannschaft bestand auch nicht aus Fischern und Filetierern, die den Fang zerlegen sollten. Sondern hauptsächlich aus Söldnern der berüchtigten Wagner-Truppe.
Kaum angelandet, begannen sie, marodierend und plündernd durch die Straßen der Siedlung zu ziehen. Sie nahmen alles mit, was sich als nicht niet- und nagelfest erwies.